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Das Leben und der Tod zweier »Missgestalten«

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Foto von Martina Vitáková via Unsplash

von Jelena Kutscherenko (auf Grundlage realer Begebenheiten, die Namen wurden geändert)

Ich mag Friedhöfe. Ich glaube, davon habe ich bereits geschrieben. Dort findet man immer etwas, worüber man nachdenken kann. Man geht still vor sich hin, betrachtet die Gräber und begreift, dass hinter diesen immer wieder gleichen Steinen und Kreuzen ganze Schicksale stehen. Ganz verschiedene, unverwechselbare… Freuden, Nöte, Hoffnungen, Enttäuschungen, Liebe und Hass… Wer waren diese Menschen? Wie haben sie gelebt? Wie starben sie? Gut, oder schlecht? Wovon träumten sie?.. Gott allein weiß es.

Aber am meisten mag ich die Friedhöfe auf den Dörfern. Und diese besonders im Frühjahr. In unmittelbarer Nähe des Todes wird neues Leben geboren. Die Natur erwacht und singt, die Sonne wärmt, die Vögel zwitschern. Und genau in solchen Augenblicken merkt man, dass es diesen Tod eigentlich gar nicht gibt. Es öffnet sich einfach eine Tür, und der Mensch tritt hindurch. Wohin? Und was wird nun aus ihm? Gott allein weiß es.


In diesem Jahr jedenfalls zog es mich auf unserem Dorf wieder dort hin.

An einem kleinen Grab hockte eine Alte. Wer von den ihren war wohl dort – ihr Mann, ihr Sohn? Sie saß eine Weile da, bekreuzigte sich und ging fort. An einem anderen Grab waren ein junger Mann und eine junge Frau emsig bei der Arbeit. Sie rupfte Gras, er strich die Umzäunung des Grabmals. Dabei unterhielten sie sich lebhaft und auf so ganz und gar nicht einem Friedhof entsprechende Art miteinander. Als ich mich bereits auf den Rückweg machte, waren auch sie am Aufbrechen. Die Frau putzte noch einmal die Fotografie am Grabstein. Ihr Begleiter aber stellte genauso sorgsam aus irgendeinem Grund ein Glas Wodka daneben.

An diesem Tag fiel mir zufälligerweise ein Grab auf. Nicht, weil es verworfen und ungepflegt war – solche gibt es dort viele. Sondern weil das schief gewordene, rostige Kreuz, das man in die Erde gesteckt hatte, ganz offensichtlich von der Marke »Eigenbau« und aus irgendwelchen Rohren zusammengeschweißt war. Und das war es auch schon – keine Einfassung, keinerlei Blumen. Nur ein überwucherter, längst vergessener Grabhügel. Selbst vor dem Hintergrund der anderen vergessenen Gräber machte dieses einen besonders verwaisten Eindruck. Als ob es nie jemand wirklich gewollt hatte…

Den ganzen Abend über hatte ich diesen traurigen Grabhügel vor meinem inneren Auge. Als ich die Nachbarin erblickte, die schon ganz alte Tante Mascha, fragte ich sie danach.

„Das, weitab vom Schuss, mit den Rohren? Das ist doch Serjoschka, die Missgestalt“, antwortete sie. „Der Unglücksrabe…“

Sie seufzte und sann nach, schien sich dabei an etwas zu erinnern…


Serjoschka war tatsächlich ein Unglücksrabe gewesen. Seit seiner Geburt. Seine Großmutter, die von allen im Dorf einfach nur Petrowna gerufen wurde und das einzige menschliche Wesen auf der Welt war, das ihm wenigstens ansatzweise freundlich begegnete, seufzte immer, wenn sie ihren Enkel sah, und mümmelte mit ihrem zahnlosen Mund: „Ach, du Unglücklicher, besser wäre es, du würdest sterben“.

Vielleicht wäre das auch besser gewesen. Aber Serjoschka lebte.

Er überlebte, als seiner Mutter, Marinka, einer örtlichen Alkoholikerin, im Suff plötzlich bewusst wurde,...


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